HKP-2-2012
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Schildkröten in der tierärztlichen Praxis
Schildkröten in der tierärztlichen Praxis
Langsam, uralt und gut geschützt
Schildkröten sind in privater Haltung und dadurch auch in der tierärztlichen Praxis die häufigsten Vertreter der Klasse Reptilia. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um Vertreter mediterraner Landschildkröten sowie amerikanischer Wasserschildkröten. Dr. Veit Kostka zeigt was bei diesen außergewöhnlichen Patienten beachtet werden muss.
Haltung und Ernährung
Die Haltungsansprüche dieser Arten sind naturgemäß recht unterschiedlich. Sowohl für Land- als auch für Wasserschildkröten sind in den Sommermonaten Freilandaufenthalte anzustreben, da der positive Effekt einer natürlichen UV-Bestrahlung und größerer Bewegungsmöglichkeiten auch mit größter Mühe bei der Terrarienhaltung in der Wohnung nicht annähernd erreicht werden kann. Auch die Ernährungsansprüche unterscheiden sich grundlegend: Die häufigsten Landschildkrötenarten ernähren sich ausschließlich herbivor, Wasserschildkröten carnivor oder omnivor. Zu bedenken ist, dass die Stoffwechselaktivität von Reptilien etwa 1/7 der eines Säugetieres beträgt. Entsprechend geringer ist der Energiebedarf und die zu fütternde Energie muss angemessen begrenzt werden, um Verdauungsstörungen und – mittel- und langfristig betrachtet – auch Leber- und Nierenschäden zu vermeiden. Bei der Landschildkröte muss darauf geachtet werden, dass der Rohfaseranteil der Nahrung bei mindestens 20 % bis 30 % liegt und der Eiweißanteil bei maximal 20 %. Das lässt sich nur durch die Fütterung von Heu oder Heupelletts erreichen. Selbst Gras ist – je nach Jahreszeit – zu energie- und eiweißreich. Spezielle Produkte sind im Fachhandel erhältlich. Gemeinsam ist allen Schildkröten (wie allen Reptilien) das biologische Phänomen der Wechselwärme (Poikilothermie). Das bedeutet, dass die Körpertemperatur der jeweiligen Umgebungstemperatur folgt und eine Regulation in der Regel nur über das Aufsuchen oder Meiden externer Wärmequellen möglich ist. Bei einer Vorzugstemperatur, die von Spezies zu Spezies variiert, laufen alle
Stoffwechselvorgänge optimal ab. Für die oben genannten Schildkrötenarten liegt sie in etwa bei 25 °C.
Die Wechselwärme hat Konsequenzen
- Der jahreszeitliche Temperaturverlauf erzwingt bei den Vertretern gemäßigter Klimazonen eine mehrmonatige Winterruhe (Hibernation). Diese sollte auch in der Privathaltung durchgeführt werden, am besten unter kontrollierten Bedingungen (ca. 6° bis 8 °C).
- Um den Tieren die aktive Einstellung der Vorzugstemperatur zu ermöglichen muss im Terrarium/Aquarium ein Temperaturgradient sowie ein Wärmespot, an dem bis zu 40 °C erreicht werden, Unabhängig davon sollten natürlich trotzdem alle Maßnahmen möglichst schonend durchgeführt werden.
Klinische Untersuchung
Verhalten
Verhält sich die Schildkröte teilnehmend und aktiv oder teilnahmslos (geschlossene Augen)? Hat sie sich in den Panzer eingezogen, was zwar für sich genommen keinen diagnostischen Wert besitzt, aber auf eine
physiologische Schutz- und Abwehrreaktion hinweist?
Haltung
Sind die Gliedmaßen ohne Einschränkungen beweglich? Eine Parese oder Paralyse der Hinterhand kann viele verschiedene Ursachen haben wie z. B. Obstipation, Nierenerkrankungen oder Blasenlähmung, Hypokalzämie, spinale Erkrankungen, Endoparasitosen, Legenot oder Tumoren.
Kopf
Sind die Augen geöffnet, klar und ohne Ausfluss? Sind die Bulbi eingesunken (Exsikkose, Abb. 1)? Besteht Nasenausfluss? Gibt es Beläge in Maulhöhle oder Rachen (Herpesvirus- oder bakterielle Infektion)?
Palpation
Ab 1.000 g Körpergewicht (KGW) können bei ausgezogenen Hinterbeinen die Kniebuchten auf beschalte Eier palpiert werden. Nach Einführen eines Fingers in die Kloake können beschalte Eier, angeschoppte Darmschlingen oder auch vergrößerte Nieren palpiert werden. Der Panzer kann manuell auf Festigkeit geprüft werden (Abb. 2), um Knochenstoffwechselerkrankungen klinisch zu diagnostizieren.
Kloake
Sind Rötungen, Schwellungen o. Ä. sichtbar? Besteht ein Schleimhaut- oder Organvorfall (Hemipenis, Legedarm, Blase, Darm)?
Labordiagnostik
Parasitologie
Bei Reptilien hat die parasitologische Kotuntersuchung aufgrund der zahlreichen Darmparasiten und -kommensalen einen besonders hohen Stellenwert, sodass eine möglichst frische Kotprobe bei Vorstellung eines Patienten mitgebracht werden sollte. Wurde keine Kotprobe mitgebracht und bei der Untersuchung spontan kein Kot abgesetzt, kann man mittels einer Kloakenspülung versuchen, Frischkot für die Untersuchung zu gewinnen (Abb.3). Neben der Flotation sollte der Kot auch nativ
mikroskopiert werden, da bewegliche Einzeller (Hexamiten, Trichomonaden, Balantidien, Nyctotherus) in der Flotation nicht mehr nachweisbar sind oder enzystieren, was die Diagnostik erschwert. Seltener zu beobachten sind Kokzidien, Amöben (für Schildkröten i. d. R. apathogen) und Cryptosporidien (bisher erst ein Fallbericht). Bei Wasserschildkröten sind vor allem Hexamiten von Bedeutung. Ferner kommen zahlreiche Trematoden und weitere Nematodenarten vor, die meist jedoch eine geringe pathogene Bedeutung haben.
Mikrobiologie
Die Untersuchung von Abstrichen auf pathogene Bakterien und Pilze gehört zu den Standarduntersuchungen beim Schildkrötenpatienten. Vor der Untersuchung auf bakterielle oder mykotische Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes mittels Rachen- und Kloakentupfer sollte stets ein parasitologischer Status erhoben werden. Je nach Symptomatik und Lokalisation der Veränderungen können Nasen-, Konjunktival-, Tracheal- und natürlich Wundabstriche untersucht werden. Äußerst wichtig sind Tupferproben bei nekrotisierenden Panzerinfektionen (Abb. 4). Spülproben kommen zur Anwendung bei Nasenausfluss (bei Landschildkröten stets auf Mycoplasma agassizii untersuchen), Tracheal- oder Lungenspülproben bei Pneumonien. Letztere sind aussagekräftiger als Trachealtupfer und einfach zu gewinnen: Unter Sichtkontrolle wird ein dünner beweglicher Katheter (z. B. Harnkatheter) in die Trachea eingeführt und so weit wie möglich vorgeschoben. Als Spülflüssigkeit kommt sterile 0,9 %-ige NaCl-Lösung in einer Menge von 5 bis 10 ml/kg KM zur Anwendung. Die Rückgewinnung erfolgt am einfachsten bei leicht nach unten geneigtem Kopf. Ein Verbleib von Spülflüssigkeit in der Lunge ist unproblematisch. Mit Ausnahme von Mycoplasma agassizii sind bisher keine primär pathogenen Bakterien bei Schildkröten beschrieben. Fakultativ pathogen – meist im Zusammenhang mit einer Immunsuppression – sind vor allem gramnegative Bakterien wie Aeromonas spp., Pseudomonas spp., Citrobacter freundii (häufig bei Haut- und Panzerinfektionen), Serratia sp. und Pasteurella sp. Auch Salmonellen werden häufig aus Kloakentupfern oder Kotproben isoliert, nur selten ist die ausscheidende Schildkröte jedoch klinisch erkrankt. Salmonellen weisen ein humanpathogenes Potenzial auf (v. a. Kinder, alte Menschen, AIDS- und Tumorpatienten). Mykosen sind am häufigsten an Haut und Panzer anzutreffen. Die kulturelle Isolierung gelingt nicht immer, weshalb zytologische oder histologische Untersuchungen ergänzend durchgeführt werden sollten.
Unter den Viruserkrankungen sind vor allem Herpesvirus- und nach neueren Erkenntnissen auch Ranavirusinfektionen von Bedeutung. Die klinischen Bilder entsprechen sich, soweit bislang bekannt, weitgehend. Die Erkrankung beginnt meist mit Nasen- und Speichelfluss sowie Anorexie, dann entwickeln sich käsige Beläge im Oropharynx, die je nach Ausprägung zu Schluck- und Atembeschwerden führen können. Je nach betroffener Spezies nimmt die Erkrankung einen unterschiedlichen Verlauf – von Selbstheilung bis hin zum akuten Todesfall. Die Diagnostik akuter Erkrankungen beruht auf dem Nachweis von Herpes- oder Ranaviren aus Rachen- und Kloakenabstrichen mittels PCR. Da Schildkröten nach Überwindung einer Herpesviruserkrankung lebenslang Virusträger bleiben, sollten in herpesvirusfreien Beständen Zukäufe quarantänisiert und mindestens zweimal im Abstand von sechs Wochen (oder nach der nächsten Überwinterung) serologisch auf Antikörper untersucht werden.
Hämatologie
Für die Blutentnahme gibt es verschiedene Möglichkeiten. Nachteilig ist, dass die Venen nicht dargestellt werden können und insofern jede Blutentnahme ein Blindflug mit aufgesetzter Kanüle und aspirierter Spritze ist. Die als Standardzugang genutzte dorsale Schwanzvene (Abb. 5) birgt als Entnahmestelle die Gefahr der Kontamination mit Lymphe, wodurch es zu Verfälschungen der Parameter Hämatokrit und Leukozytenwert kommen kann. Die Entnahme aus der Jugularvene vermeidet die
Lymphkontamination, zur Entnahme muss jedoch der Hals gestreckt fixiert werden. Als Anitkoagulans muss Heparin zum Einsatz kommen, da EDTA bei Reptilienblut Hämolyse verursacht. Auch die Kanüle sollte mit Heparin gespült werden, um eine intraluminale Gerinnung zu vermeiden. Für viele Arten sind keine Referenzbereiche zur Bewertung der Ergebnisse hämatologischer und klinisch-chemischer Untersuchungen etabliert. Die bereits etablierten Referenzbereiche unterliegen zudem einer erheblichen physiologischen Variabilität. Eine Vielzahl von Faktoren ist dafür verantwortlich: Alter, Geschlecht, Fütterung, Reproduktionsstatus, Jahreszeit, Hibernation u. a. Die wichtigsten Parameter für die hämatologische Untersuchung sind der Hämatokrit und die Gesamtzahl der Leukozyten. Die alleinige zahlenmäßige Differenzierung der Leukozytenfraktionen bringt nur begrenzt Informationen, da oben erwähnte Faktoren den Status der einzelnen Fraktionen stark beeinflussen. So liegt beispielsweise die physiologische Variationsbreite für eosinophile Granulozyten und basophile Granulozyten bei 0 % bis 20 % respektive 0 % bis 40 %. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang die morphologische Beurteilung der Blutzellen (Abb. 6). Dabei wird auch auf Blutparasiten sowie Einschlusskörperchen, die auf Virusinfektionen hinweisen, untersucht.
Klinische Chemie
Von den Substraten hat die Harnsäure bei Landschildkröten und der Harnstoff bei Wasserschildkröten die größte Bedeutung für die Beurteilung des Eiweißstoffwechsels und der Nierenfunktion. Ausgehend von diesen beiden Werten können – in Kombination mit dem Phosphor- und Kaliumwert – der Schweregrad der Erkrankung und die Prognose abgeschätzt werden. Allerdings beschränkt die hohe Hämolyseempfindlichkeit von Kalium und Phosphor die Aussagefähigkeit dieser beiden Parameter. Albumin ist ebenfalls ein wertvoller Parameter sowohl für die Nierendiagnostik als auch zur Beurteilung des Ernährungszustandes. Die Albuminkonzentration ist bei Auszehrung und länger dauernder Anorexie erniedrigt, bei akuten Entzündungen und Dehydratation erhöht. Für die weitere Beurteilung kann der Hämatokrit herangezogen werden, der bei Exsikkose ebenfalls erhöht ist. Die Erhöhung der Globuline führt bei einer Entzündung zu einer Erhöhung des Gesamteiweißes. Die Differenzierung der Globuline durch die Eiweißelektrophorese ist für Reptilien nicht etabliert. Die Diagnostik von Lebererkrankungen mittels klinisch-chemischer Parameter ist bei Reptilien schwierig, da die Aussagekraft der klassischen Leberwerte unsicher ist. Aktivitätserhöhungen von sowohl AST (GOT) als auch ALT (GPT) sind – verbunden mit der Erniedrigung von Albumin und Glukose – hinweisend auf eine Lebererkrankung. Der diagnostische Wert der Gallensäurenbestimmung ist für Reptilien noch nicht geklärt. Kalzium und Phosphor sind wichtige Parameter für die Beurteilung der Kalziumversorgung und der Nierenfunktion. Ein Kalzium-Phosphor- Verhältnis von <1 weist auf eine Nierenerkrankung hin. In der Eianbildungsphase werden bei weiblichen Tieren regelmäßig mittelgradig bis ausgeprägt hohe Konzentrationen von Albumin, Gesamteiweiß, Cholesterin, Triglyzeriden, Kalzium und Phosphor beobachtet. Das Enzym Kreatininkinase (CK) ist – ähnlich wie beim Säugetier – ein guter Parameter für Erkrankungen der Muskulatur.
Was tun, bis die Diagnose steht?
Zunächst ist die Frage nach der Therapiewürdigkeit zu stellen. Häufig werden moribunde Tiere als vermeintliche Notfälle vorgestellt, obwohl der Zeitpunkt für eine erfolgreiche Therapie bei Weitem überschritten ist. Auch hier gibt es Ausnahmen in Form von speziesspezifischen Erkrankungen, z.B. Vitamin-B-Mangel bei Strumpf -
bandnattern, die dramatische ZNS-Störungen zeigen, aber durch
Supplementierung relativ gut geheilt werden können. Echte Notfälle sind Traumen, Legenoterkrankungen oder Organvorfälle aus der Kloake. Letztere müssen von jedem Praktiker soweit versorgt werden, dass die Integrität des vorgefallenen Organs möglichst erhalten bleibt (feucht halten, Repositionsversuch), bis ggf. die Versorgung in einer spezialisierten Einrichtung erfolgen kann. Für alle unspezifischen Krankheitsbilder haben sich folgende Grundsätze und Maßnahmen bewährt:
- Hospitalisierung bei optimalen Temperaturen (Richtwert: 28 °C)
- Tägliches Baden in lauwarmem Wasser (28 °C, 10 bis 20 Minuten)
- Tägliche Bestrahlung mit UVB (Osram-Ultravitalux, 30 Minuten, 1 Meter Abstand zum Patienten)
- Subkutane oder orale Flüssigkeitssubstitution
mit physiologischer Kochsalzlösung und Glukose 5 % (Verhältnis 1:1), initial 40 ml/kg, nachfolgend 20 ml/kg, Erhaltung mit 5 – 10 ml/kg; die Häufigkeit der Applikation ist abhängig vom Grad der Dehydratation und der Urinausscheidung
- Bei starker Abmagerung Zwangsfütterung mit Oxbow Critical Care (Albrecht) jeden 2. Tag; bei länger bestehender Anorexie sollte der Patient über 1 bis 2 Tage mit Glukoseinfusionen (s. o.) vorbereitet werden
- Größere Arznei- und Futtermengen vor der Applikation erwärmen
- Antibiose nur nach strenger Indikation, nach Tupferprobennahme für die mikrobiologische Untersuchung einschließlich Antibiogramm; bis zum Vorliegen des Resistenztestes kann Marbofloxacin (10 mg/kg jeden 2. Tag) eingesetzt werden
Weiterführende Untersuchungen sollten immer eingeleitet werden, wenn klinische Befunde und Laboruntersuchungen keine Diagnose ergeben (z. B. negativer parasitologischer Befund).
Foto: © Dr. Veit Kostka
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