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Sinnvoll aktiv

Entwicklungen in der Verhaltensmedizin

In meiner verhaltensmedizinischen Überweisungspraxis bekomme ich in der Mehrzahl der Fälle Hunde und Katzen vorgestellt, die Schäden oder Probleme verursachen, das heißt aggressives Verhalten, Zerstörung, Vokalisieren, Unsauberkeit, etc. Alle diese Tiere produzieren ein Zuviel an Verhalten, sie sind zu aktiv in Bezug auf das, was ihre Besitzer ertragen können. Manche dieser Tiere leiden an psychischen Störungen wie obsessiv-kompulsiven Störungen oder Phobien ... aber viele leben einfach in einer Umwelt, die ihre Aktivitätsbedürfnisse nicht befriedigen kann.

Aktivitätsbedürfnisse

Beobachtungen an wild lebenden Hunden und Katzen zeigen, dass diese Tiere im Durchschnitt drei bis fünf Stunden täglich mit dem Nahrungserwerb, der Jagd oder dem Durchsuchen von Mistkübeln beschäftigt sind. Wenn sie das Futter schnellerfinden, jagen diese Tiere trotzdem noch, erforschen ihre Umgebung, wandern herum, nagen an einem Knochen.
Die Gesamtheit aller lebenswichtigen Aktivitäten, also die Suche nach Nahrung und Wasser, die Suche nach sicheren Orten oder Schutz gegen Kälte und Hitze, kann mehr als acht Stunden pro Tag erfordern. Wenn ein Tier seine fundamentalen Bedürfnisse zum Überleben befriedigt hat, beschäftigt es sich auch noch mit Spielen oder sozialen Aktivitäten. Das bedeutet, dass das gesamte Aktivitätsbedürfnis noch höher ist als nur die grundlegenden Überlebensstrategien und dieses Bedürfnis ist individuell, genetisch vorgegeben und mehr oder weniger – von der altersbedingten Entwicklung abgesehen – unveränderlich.
Hunde und Katzen, die in unseren Familien leben, haben im Grunde die gleichen Aktivitätsbedürfnisse, auch diese sind genetisch determiniert. Manche Hunde sind sogar in Richtung Hypertrophie bestimmter Verhaltensweisen, wie zum Beispiel bestimmten Teilen der Jagdverhaltenssequenz, selektiert und haben daher ein höheres Aktivitätsbedürfnis als ihre wildlebenden Verwandten.

Eine Formel für das Aktivitätsbedürfnis

Für unsere in der Familie gehaltenen Tiere kann man das gesamte Aktivitätsbedürfnis in einer Formel als Summe aller unterschiedlichen vom Tier produzierten Aktivitäten, so zum Beispiel Futtersuche und -aufnahme, Kau- und Nagetätigkeit, jagdliche Verhaltensweisen, Bewegungsaktivität, Vokalisieren, aggressive Verhaltensweisen, Körperpflege, sexuelle und soziale Aktivitäten, Spielen, Gehorsamsübungen, kognitive Aktivitäten, etc. darstellen. Die einzelnen Elemente, die in dieser Formel zur Veranschaulichung für den Besitzer aufgenommen werden können, sind natürlich nicht limitiert.

Gesamtaktivität (Ag) = motorische Aktivität (Am) + Kautätigkeit (Ak) + Vokalisation (Av) + intellektuelle Tätigkeit (Ai) + etc.

Diese Formel ist einfach nur ein Modell der Wirklichkeit zur Aktivität von Hunden und Katzen – und sie beansprucht nicht diese Wirklichkeit als tatsächliche Wahrheit abzubilden. Sie ermöglicht aber ziemlich schnell einen Begriff davon zu bekommen und zu vermitteln, dass einem Hund oder einer Katze Aktivität fehlt und dass diese Tiere versuchen, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen, indem sie etwas „tun“. Und dieses „Tun“ ist im Allgemeinen für die Besitzer nicht immer angenehm. Zum Beispiel kann die Katze beginnen, die Füße ihrer Besitzer zu jagen, der Hund kann aus Langeweile einen Streit um den Platz auf dem Sofa beginnen oder er kann Gegenstände annagen oder den ganzen Tag bellen und manchmal kann sich dieses Verhalten sogar bis zu einer obsessivkompulsiven Störung steigern.
Das heißt auch, wenn unsere Haustiere solche Verhaltensweisen zeigen, dass sie einfach die Zeit und Muße dafür haben, weil sie nichts anderes – Wichtigeres, ja Lebenswichtigeres – zu tun haben.
Außerdem ist ein Mangel an Aktivität, Langeweile ein wesentlicher Stressfaktor und dieser Stress kann sich mitunter als Unsauberkeit, als Markierverhalten, als verschiedene psychisch beeinflusste organische Erkrankungen wie Asthma oder interstitielle Cystitis (FIC) bei der Katze oder gastrointestinale Störungen, Hauterkrankungen oder aber Leckdermatiden beim Hund zeigen.

Wie kann der Aktivitätsmangel behoben werden?

Die erwähnte Formel ermöglicht es, einfache Lösungen zu finden. Wenn Hunde und Katzen in der Natur mehr als drei Stunden damit zubringen, ihr Futter zu suchen, warum füttern wir unsere Haustiere nur wenige Minuten pro Tag? Was sollen sie denn in den restlichen Stunden der Inaktivität und Langeweile tun? Das Ideal wäre 1) sie das Futter selbst suchen zu lassen oder 2) sie für ihr Futter arbeiten zu lassen.
Eine Futtersuche zu initiieren geht ziemlich einfach mit mobilen Trockenfutterspendern (Futterbälle, -würfel), mit Futter, das in einem Karton voll mit zerknülltem Papier, Bällen oder Steinen angeboten wird, mit Futter, das über einen großen Bereich zum Beispiel im Garten oder vor allem für Katzen auch an erhöhten Orten verstreut wird, mit verstecktem Futter oder mit einfacher Fährtenarbeit.
Für das Futter zu arbeiten, kann auch mit Übungen kombiniert werden. Man stelle sich einen Hund vor, der nicht mehr aus der Futterschüssel gefüttert wird, sondern sich jede Krokette oder jedes kleine Stück Fleisch als Belohnung für ein Sitz, ein Platz, ein Komm her erhält oder auch für sinnfreie lustige Übungen wie Sprünge, Kunststücke oder einen Hindernisparcours. Noch besser ist es, mentale Übungen für den Hund einzubauen wie Differenzierungsübungen von Objekten, Farben oder Gerüchen, aber das erfordert etwas mehr erzieherische Kompetenzen beim Besitzer.
Noch einfacher ist es, dem Hund interessante Dinge zum Benagen und Belecken zu geben wie ausreichend große Knochen (von erwachsenen Tieren) oder andere Futterspielzeuge mit attraktiver Füllung.
Das Verhalten des Hundes verändert sich innerhalb weniger Tage und das störende Verhalten wird weniger oder verschwindet ganz.
Bei tatsächlich hyperaktiven Tieren kann man mit Medikamenten wie Fluvoxamin oder Clomipramin, die das allgemeine Aktivitätsbedürfnis um rund 30–50 % reduzieren, helfen. Und das ist auch notwendig, wenn die Besitzer erschöpft sind und von den massiven Schäden, die ihre Tiere durch ihr Verhalten verursachen, erzählen. Aber es ist keine unbedingte Notwendigkeit – außer für schwere Störungen wie obsessiv- kompulsive Störungen (Kreislaufen, Flankensaugen, Schatten oder Lichtreflexe jagen), die mehrere Stunden pro Tag in Anspruch nehmen.

Joel.Dehasse@skynet.be

HKP 3 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe HKP 3 / 2009.
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