29.03.2024 07:50 - Über uns - Mediadaten - Impressum & Kontakt - succidia AG - Partner
Silvesterangst

Silvesterangst

Katze und Hund leiden unter dem Lärm der Kracher

Alle Jahre wieder kommt der Silvesterkrach. Und mit ihm bei vielen Tieren die Angst. Dr. Brigitta Nahrgang beleuchtet die Entstehung der Angst, insbesondere der Geräuschphobie. Anschließend erfolgt eine Erläuterung zur Wirkungsweise der anwendbaren Psychopharmaka und Futtermittel mit ihren Vor- und Nachteilen. Außerdem werden Grund züge einer möglichen Verhaltenstherapie erläutert.

Wie entsteht Angstverhalten?

Angst vor Geräuschen (Geräuschphobie) kann entstehen, wenn sich das Tier vor einem (lauten) Geräusch wie z.B. Feuerwerk, aber auch Auto hupen oder Gewitter erschrickt. Dies kann auch ein lange bekanntes Geräusch sein, auf das das Tier plötzlich ängstlich reagiert, die Geräuschtoleranz kann sich also im Laufe der Zeit ändern. Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Angst liegt in der Sozialisation des Tieres. Dabei spielen beim Hund die ersten vierzehn, bei der Katze die ersten sieben Lebenswochen eine entscheidende Rolle. In dieser Zeit erlernen die Welpen die grundlegenden Regeln für den Umgang mit anderen Lebewesen (Sozialisation) und gewöhnen sich an die Reize der Umwelt (Habituation). Mangelt es in dieser Phase an Kontakten zu anderen Tieren, Menschen oder Umwelteinflüssen wie z.B. Lärm im Haushalt oder Straßenverkehr, lernt der Welpe in seinem weiteren Leben nur schwer, mit neuen Situationen umzugehen. Früh bildet sich ein Muster heraus, mit dem dann verglichen wird: Bekanntes erzeugt keine Angst, Unbekanntes wird mit Vorsicht betrachtet und erzeugt Unbehagen bzw. Angst. Reizarme oder isolierte Aufzucht erschwert also den Umgang mit Stress auslösenden Umweltfaktoren. Außer der Aufzuchtsituation kann auch eine genetische Veranlagung zur Entwicklung einer Geräuschangst führen. Einige Hütehunderassen wie der Border Collie und Bearded Collie sind prädisponiert dafür. In der Regel potenziert sich die Geräuschphobie von Mal zu Mal. Hierbei spielt auch die Lernerfahrung (die Angst vor der Angst) und das Verhalten der Besitzer eine große Rolle, denn gut gemeinter Trost sorgt für Aufmerksamkeit und positive Verstärkung und wirkt somit kontraproduktiv. Vermutlich sind es an Silvester nicht nur die Geräusche, die Angst auslösen. Auch schussfeste Hunde oder solche, die sich nicht bei Gewitter ängstigen, können an Silvester Panik haben. Der Grund liegt darin, dass an Silvester optische Reize (Lichtreflexe), olfaktorische Reize (Rauchbzw. Qualmgeruch) und akustische Reize zusammenkommen und somit eine Reizüberflutung verursachen.

Die Neurophysiologie der Angst

Das Regelzentrum für die emotionale Verarbeitung der Reize aus der Umwelt befindet sich bei den Säugetieren im limbischen System. Hier findet über Neurotransmitter (Botenstoffe im Gehirn) und deren Rezeptoren die Bildung von Emotionen wie Angst und die daraus resultierenden körperlichen Reaktionen und Verhalten statt. Für die medikamentöse Therapie von Verhaltens- bzw. Angststörungen spielen die Neurotransmitter gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Serotonin eine große Rolle. Serotonin werden angstlösende und stimmungsaufhellende Eigenschaften zugeschrieben, gamma-Aminobuttersäure wirkt erregungsinhibitorisch.

Therapiemaßnahmen

Es gibt sowohl verhaltenstherapeutische als auch pharmakologische Ansätze, um die Angst zu lindern oder zu nehmen. Sie werden sowohl einzeln als auch idealerweise in Kombination angewendet.

Verhaltenstherapeutische Maßnahmen

Desensibilisierung

Hierbei möchte man eine Toleranz des Tieres gegen angstaus lösende Geräusche erreichen. Um den dargebotenen Reiz, in diesem Fall zum Beispiel Silvesterknaller, in kleinen Dosen zu starten, bietet sich eine Geräusch-CD an. Hierbei wird die Lautstärke in kleinen Stufen hochreguliert. Parallel dazu bietet der Tierbesitzer Futter an. Solange das Tier dabei frisst, signalisiert es eine weitgehende Stressfreiheit und der Reiz, also die Lautstärke, kann zunehmen.

Besitzerverhalten

Immer sollte das Verhalten des Besitzers dem Tier gegenüber in den Behandlungsplan integriert werden. Durch übertriebene Zuwendung verstärkt sich die Angst des Hundes bzw. der Katze. Jedes Beruhigen wird vom Hund als Lob verstanden und verstärkt sein Angstverhalten. Dem Tier sollen Rückzugsmöglichkeiten angeboten werden. Hunde- bzw. Katzenboxen mit Dach eignen sich wegen des Höhlencharakters gut. Die Rollläden werden heruntergezogen, vorhandene Gardinen geschlossen. Spaziergänge am Silvesterabend sollen kurz und bis spätestens 20 Uhr stattfinden. Beim Hund ist ein guter Sitz des Halsbandes zu überprüfen, damit er sich in einer Panikreaktion nicht daraus befreien und kopflos davonrennen kann. Das Anschalten eines Radios bzw. Fernsehgerätes stellt ggf. einen gewohnten Gegenreiz dar. Das Wichtigste aber ist ein souveräner Tierhalter, der sich unbekümmert verhält und seinen Alltagsverrichtungen nachgeht, anstatt seine Aufmerksamkeit der Angst des Tieres zu widmen.

Medikamentöse Maßnahmen

Trizyklische Antidepressiva

Clomipramin, in der Tiermedizin unter dem Handelsnamen Clomicalm erhältlich, zeichnet sich durch seine Serotonin verstärkende Eigenschaft aus. Es wird bei Angstproblemen erfolgreich eingesetzt. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Appetitreduktion und Lethargie. Es sollte vier Wochen lang vor dem Ereignis verabreicht werden.

Dosierung: Hund 2 mg/kg BID, Katze 0,5 mg/kg SID

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Sie zeichnen sich durch eine Serotonin verstärkende Wirkung aus, haben aber weniger Nebenwirkungen als trizyklische Antidepressiva, da sie selektiv an Serotonintransportern arbeiten und andere Neurotransmitter weitgehend unbeeinflusst bleiben. Bis zu ihrem vollen Wirkungseintritt vergehen drei Wochen. In der Tierverhaltenstherapie findet der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluoxetin Verwendung. In Deutschland ist er jedoch für Tiere nicht zugelassen.

Dosierung: Hund 1 mg/kg SID, Katze 0,5 mg/kg SID

Benzodiazepine

Sie verstärken die Wirksamkeit des hemmenden Neurotransmitters gamma-Aminobuttersäure (GABA) und verhindern dadurch eine Übererregung im ZNS. Die wichtigsten Benzodiazepine in der Tiermedizin sind Diazepam, bekannt unter dem Handelsnamen Valium, und Alprazolam. Der Vorteil dieser Medikamente ist die stark angstlösende und nur gering sedierende Wirkung. Die Wirkung tritt schnell ein, es braucht keinen wochenlangen Vorlauf. Von Nachteil ist, dass Benzodiazepine sehr individuell dosiert werden müssen. Werden sie einem bereits erregten Tier gegeben, kann sich die Wirkung ins Gegenteil verkehren und zu Panikattacken führen. Wegen seiner enthemmenden Wirkung ist der Einsatz von Alprazolam bei aggressiven Hunden kontraindiziert. Bei einer Medikation von über fünf Tagen wird ein Ausschleichen empfohlen, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Es gibt keine speziell für Tiere zugelassenen Benzodiazepine in Deutschland auf dem Markt, eine Umwidmung der humanmedizinischen Formulierung ist aber möglich.

Dosierung: Hund 0,55 – 2,2 mg/kg TID, Katze 0,2 – 0,4 mg/kg TID Cave: Bei der Katze kann es vereinzelt durch Benzodiazepine zu tödlich verlaufenden Leberschäden kommen.

Caseinhydrolysat

Das seit Längerem in Form von Kapseln (Zylkène) oder als Futterbestandteil (Calm, s.o. unter Tryptophan) erhältliche Alpha-Casozepin gehört zu den Nahrungsergänzungsmitteln. Es arbeitet wie ein Benzodiazepin, hat aber den großen Vorteil, nebenwirkungsfrei zu sein. Es empfiehlt sich, Zylkène mindestens zwei Tage vor einer gewünschten beruhigenden Wirkung zu verabreichen.

Dosierung: individuell je nach Verabreichungsform

Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)

MAO-Hemmer wirken auf das Serotoninsystem und haben eine Serotonin verstärkende Eigenschaft. In Deutschland ist Selegelin unter dem Handelsnamen Selgian für Hunde zugelassen. Seine anxiolytische Wirkung ist unter Umständen nicht ausreichend, Nebenwirkungen sind sehr selten.

Dosierung: Hund 0,5 mg/kg

Tryptophan

In einigen Fällen kann auch der Einsatz von Neurotransmittervorläufern ausreichend sein. Tryptophan als essenzielle Aminosäure wird im Körper zu Serotonin umgewandelt. In Pulverform (Relax) oder Tablettenform (Relaxan) ist es in der Tiermedizin zugelassen. Auch das Trockenfutter Calm enthält Tryptophan. Es sollte vier Wochen lang vor dem Ereignis verabreicht werden.

Dosierung: individuell je nach Verabreichungsform

Pheromone

Canine bzw. feline synthetische Beruhigungspheromone (D.A.P. bzw. Feliway) sind den natürlicherweise in den Talgdrüsen des Gesäuges produzierten Pheromonen nachempfunden. In der Verhaltenstherapie eignet sich ihr Einsatz unterstützend bei Unsicherheit und Angst. Nebenwirkungen sind nicht bekannt. Sie sollten zwei bis drei Wochen lang vor dem Ereignis verabreicht werden.

Dosierung: Verabreichung erfolgt als Zerstäuber, Spray oder Halsband

Phenothiazinderivete

Von dem Einsatz von Azepromazin (Vetranquil oder Sedalin) ist abzuraten. Als Phenothiazinderivat hat es nur eine sedative Wirkung auf das zentrale Nervensystem, erhält jedoch die Reaktion auf Stimuli. Dies führt dazu, dass die Tiere zwar äußerlich ruhig erscheinen, jedoch alle Formen der Reize wahrnehmen. Durch die starke Sedation sind sie in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt und können somit nicht angemessen reagieren, z.B. mit Fluchtoder Rückzugsverhalten. Dieser Umstand hat zur Folge, dass sich die Angst nach jeder Behandlung verschlimmert.

Tipps für den Umgang mit ängstlichen Tieren an Silvester

- Kurze Spaziergänge bis spätestens 20 Uhr
- Kein beruhigendes Einreden auf den ängstlichen Vierbeiner, dadurch verschlimmert sich die Angst
- Rückzugsmöglichkeiten bieten, das Tier soll sich den Raum aussuchen dürfen, in den es sich zurückziehen möchte.
- Hunde- bzw. Katzenbox
- Rollläden herunterlassen und Gardinen zuziehen
- Radio bzw. Fernsehen anmachen
- Wichtig: Bleiben sie als Tierhalter souverän!

HKP 6 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe HKP 6 / 2011.
Das komplette Heft zum kostenlosen Download finden Sie hier: zum Download

Der Autor:

Weitere Artikel online lesen

Dr. Birte Reinhold, ICHTHYOL-GESELLSCHAFT
„Endlich hat sich hundkatzepferd zum Fachmagazin für den Tierarzt entwickelt. In der Ausgabe 03/12 fielen neben informativen Neuigkeiten aus dem Praxisbereich und den lustigen Nachrichten aus der Tierwelt viele anspruchsvolle und praxisrelevante Fachartikel in einem ungewöhnlich anschaulichen und erfrischenden Design auf. Auch ein Fachmagazin kann unterhaltsam sein und taugt somit auch nach einem anstrengenden Arbeitstag noch zur Feierabendlektüre im Gartenstuhl. Gefällt mir!“
Prof. Dr. Arwid Daugschies, Universität Leipzig, Veterinärmedizinische Fakultät – VMF
„hundkatzepferd serviert dem Leser den aktuellen Wissensstand in leicht verdaulicher Form. In Zeiten einer erdrückenden Informationsflut tut es gut, wenn solides Wissen auch in erfrischend entspannter Art angeboten wird.“
Dr. Anja Stahn ( Leitung der Geschäftseinheit VET in Europa und Middle East bei der Alere )
Die hundkatzepferd begleitet mich nun schon seit einigen Jahren. Nach wie vor begeistern mich
die Aufmachung, der fachliche und informative Inhalt sowie und die beeindruckenden Fotos des
Fachmagazins. Ganz deutlich ist seit einigen Monaten eine noch stärkere Ausrichtung auf die Belange
und Interessen der Tierärzteschaft zu erkennen. Dies ist sehr erfreulich. Das Magazin gehört in jede
Praxis und sollte unterhaltsame „Pflichtlektüre“ für das ganze Praxisteam sein.